Berührende Reisebegegnungen – Auf den Spuren meines Großvaters in der Provence
Wir sind Kerstin und Klaus. Mit unserer Tochter (Lundi) reisen wir inzwischen zu dritt.
Wir lieben es die Welt zu erkunden und dir Anregungen und Tipps für deine eigene Reise zu geben!
Eine Geschichte über Freundschaft, Flucht und ein Wiedersehen
Mein Opa Willi (1921-2005) war während des zweiten Weltkriegs in französischer (und spanischer) Kriegsgefangenschaft. Während der französischen Kriegsgefangenschaft befand er sich in einem kleinen Ort nahe der Côte d’Azur und fertigte Bruyere-Besen. Während dieser Zeit freundete er sich mit einem französischen Soldaten an, der ihn beaufsichtigen sollte. Er fasste Vertrauen zu ihm und erzählte ihm von seinen Fluchtplänen und der Franzose versprach, ihm zu helfen. Er zeichnete ihm von Hand eine Landkarte mit einem Fluchtweg und fuhr ihn schließlich selbst mit seinem Mofa in einer Nacht- und Nebelaktion bis zum Fuß der Pyrenäen, von wo aus mein Großvater sich dann weiter zu Fuß durchschlug Richtung Heimat. Da beide sich nach Kriegsrecht strafbar gemacht hatten, indem sie sich mit dem Feind solidarisierten, schwor man sich zum gegenseitigen Schutze nie wieder Kontakt miteinander aufzunehmen.
Obwohl mein Opa tatsächlich keinen Kontakt aufnahm, war der Name seines französischen Freundes auch seiner späteren Frau und seinen beiden Kindern ein Begriff. Mein Vater und seine Schwester wuchsen mit Geschichten und Erzählungen über den französischen Freund auf. Ende der 1970er Jahre entschloss sich mein Opa mit meiner Oma, meinem Vater und meiner Mutter, die damals jung verheiratet waren, gemeinsam mit dem Auto Spanien und Südfrankreich zu bereisen und die Orte seiner Gefangenschaft und Flucht zu besuchen. Und so gelangten sie schließlich auch in den Ort, aus dem mein Großvater befreit wurde und wo sein französischer Freund zu Kriegszeiten gelebt hatte.
Nun gab es Ende der 1970er Jahre natürlich weder Facebook noch Whatsapp. Mein Großvater hatte keine Ahnung, ob sein Freund noch lebte und ob er ihn dort finden könnte, wo sie sich zuletzt gesehen hatten. Sie betraten also auf Verdacht einen Laden im Ortskern. Was dann geschah, beschreibt mein Vater als einen der emotionalsten Momente seines Lebens: Mein Großvater sah die Silhouette eines Mannes, der ihm im Laden den Rücken zuwandte und erkannte den Freund sofort. Auf französisch fragte er: „Hey, werden hier eigentlich immer noch Bruyere-Besen gefertigt?“ und noch im Umdrehen rief der Franzose, der sofort wusste, wer da spricht, den Namen meines Großvaters und beide lagen sich weinend in den Armen.
Von diesem Moment an lebte die Freundschaft der beiden wieder auf. Es bestand Brief- und Telefonkontakt und meine Großeltern fuhren noch häufiger in die Provence, um den französischen Freund und seine Familie zu besuchen. Auch nach dem Tod meines Großvaters hielt der Kontakt zwischen meiner Großmutter und dem französischen Freund, wenn auch reduziert, da mein Großvater der einzige in der Familie war, der französisch sprach. In den vergangenen Jahren war er jedoch altersbedingt nahezu eingeschlafen.
Auf Großvaters Spuren
Als Klaus die Route für unseren Südfrankreich-Roadtrip plante, stellte ich fest, dass sie durch besagtes Örtchen verlaufen wird, wo der Freund meines Großvaters wohnt. Da meine Großmutter einige Wochen zuvor kurz mit ihm telefoniert hatte, wusste ich, dass er wahrscheinlich noch lebt. Da auch ich mit den Geschichten über Opas Flucht und seinen französischen Freund aufgewachsen bin, beschloss ich, ebenfalls auf Verdacht hinzufahren. Da weder Klaus noch ich französisch beherrschen, ließ ich mir einen Brief auf Französisch übersetzen, den ich entweder zur Erklärung, wer ich bin überreichen oder, falls ich niemanden antreffe, in den Briefkasten werfen wollte.
Hier ein Auszug:
Mit Händen, Füßen und Google-Übersetzer konnten wir uns einigermaßen verständigen. Sie führten mich in das Zimmer von Opas Freund, der genauso gerührt war wie ich über unsere Begegnung. Sein Sohn zeigte mir ein Foto meines Großvaters, das im Wohnzimmer des Freundes hängt. Ich war überwältigt, welche Bedeutung mein bereits vor elf Jahren verstorbener Opa für seinen Freund immer noch haben musste, dass er ihn auch so viele Jahre nach seinem Tod nicht vergessen hat. Wir unterhielten uns in einer abenteuerlichen Mischung aus deutsch, französisch, Gesten und Smartphone-Bildern, wobei ich mit Bewunderung feststellte, dass Opas Freund recht gut Deutsch sprechen kann, zumindest weit besser als wir französisch.
Zum Schluss rappelte sich der alte Mann noch einmal hoch, um uns anständig im Stehen mit Küsschen rechts und Küsschen links zu verabschieden. „Auf Wiedersehen!“ und „Kommt bald wieder!“ sagte er auf deutsch und ich erwiderte mit dem zweiten Satz, den ich auf französisch geübt hatte: „Je suis heureux de vous avoir rencontrés“ – „Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben“ und meinte damit viel mehr als nur eine Höflichkeitsfloskel.
Meine Gedanken zu Freundschaft und Hilfsbereitschaft
Mich hat dieses Treffen sehr berührt und mir gingen viele Dinge durch den Kopf. Zunächst einmal, welch großes Glück wir haben, dass wir in Zeiten des Friedens leben und unbeschwert durch Europa und weite Teile der Welt reisen können. Dass wir z.B. mit dem Flugzeug bequem in knapp zwei Stunden von Marseilles nach Frankfurt reisen können. Für meinen Opa war dies vor knapp 80 Jahren eine lebensgefährliche, lange und ungewisse Reise.
Am tiefsten hat mich allerdings diese Freundschaft beeindruckt: Dass dieser alte Mann, den ich im April 2016 kennenlernen durfte, meinem Opa einst zur Flucht verholfen und ihn selbstlos unterstützt hat, sich für ihn eingesetzt und sich selbst für ihn in Gefahr gebracht hat. Und wer weiß, ob es mich und meine ganze Familie ohne sein mutiges Handeln überhaupt geben würde?
Für Menschen meiner Generation, die wir in Zeiten von Frieden und Wohlstand leben, ist das eine ferne und unwirkliche Vorstellung. Unweigerlich musste ich mir die Frage stellen, wie weit meine Solidarität gehen würde. Natürlich würde auch ich für meine Freunde durch Dick und Dünn gehen! Keine Frage! Aber das ist so leicht daher gesagt, denn in solch einer Situation war ich noch nie. Wie würde ich handeln? Wie weit würde ich gehen, um anderen zu helfen? Ich hoffe, dass ich nie derartig auf die Probe gestellt werde und Europa ein friedlicher Ort bleibt. Aber falls es doch nötig werden sollte, wünsche ich mir und den Menschen meiner Generation solchen Mut zur Solidarität.
Im August 2016 ist nun auch Opas Freund im Alter von 94 Jahren gestorben und ich bin sehr froh, ihn noch kennengelernt zu haben. Nun sind beide Freunde tot und ich kann nicht mehr nachfragen, damit sie mir von dieser spannenden und schönen Geschichte in allen Einzelheiten berichten. Aber ich will sie trotzdem so gut es geht weitererzählen!
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Liebe Kerstin,
das ist ein wirklich sagenhaft schöner Artikel, der mir die Tränen kommen ließ. Danke, daß Du dieses emotionale Erlebnis mit uns teilst. Dazu kommen noch die sagenhaft schönen Bilder aus Südfrankreich. Wir waren auch schon zum Wandern in dieser Gegend, deshalb fühlt es sich doppelt schön an, eine Geschichte von dort zu lesen.
LG
Silke
Liebe Silke, danke für deinen Kommentar. Ich habe in der Tat etwas gezögert, ob ich diese sehr persönliche Geschichte veröffentlichen möchte. Aber ich finde, dass man gerade in der heutigen Zeit solche Geschichten erzählen muss.
Liebe Grüße Kerstin